Da war er wieder! Ich schlage die Augen auf und lausche noch einmal in die Stille der Nacht. Der Ton ist unverkennbar. Ein Blick auf die kleine Uhr gegenüber bestätigt meine Vermutung. Es ist 2 Uhr nachts, genau wie jedes Mal.
Neben mir geht der Atem unverändert gleichmäßig und tief. Ganz vorsichtig schiebe ich meine Füße unter der Decke hervor und spüre die kühle Luft. Als ich die Beine vors Bett setze, fühle ich unter meinen Fußsohlen das warme, weiche Fell meiner Hündin. Kurz hebt sie den Kopf, schaut mich an und entschließt sich dann doch, weiter zu schlafen. Sanft kraule ich mit den Zehen ihren Bauch und stell mich auf. Die Dielen knarren leise als ich zum Fenster gehe.
Dort draußen wartet er. Er ruft mich, sein Geist berührt den meinen wie schon so oft.
Als ich die hölzerne Treppe nach unten schleiche höre ich hinter mir das leise Kratzen der Hundepfoten. Ich lächle in mich hinein. Elli hat sich also doch entschieden, mit mir zu kommen.
Von der Veranda aus treten wir in die dunkle Nacht hinaus. Es ist ein wunderschönes Gefühl, hier zu stehen und ich schließe verzaubert die Augen. Diese Stille! Dieser Geruch! Selbst meine Hündin scheint die einzigartige Energie wahrzunehmen. Reglos und fast ehrfürchtig steht sie neben mir und wartet. Der schwarze Himmel legt sich wie eine Hülle um das Land. Es ist, als wolle er diesen Flecken Erde sanft umarmen und ihm Schutz bieten.
Plötzlich ist er wieder zu hören. Elli fiept leise und schaut mich erwartungsvoll an. Wie zwei Schatten laufen wir durch das feuchte Gras in Richtung Wald. Erst jetzt bemerke ich, dass meine Füße noch immer nackt sind. Die Erde ist noch warm obwohl die Sonne vor Stunden untergegangen ist. Ich liebe es, barfuß zu laufen. Es vermittelt mir ein Gefühl von Ehrlichkeit.
Kurz vor dem Wald wird es merklich kühler und wir biegen ab in Richtung Wasser. Der Pfad ist hier breiter und von den Tieren ausgetreten. In dieser Dunkelheit führt mich eher mein Bauchgefühl als dass es meine Augen können.
Wir sind da. Vor uns liegt glitzernd der See und direkt darüber hängt tief und schwer der silberne Mond. In ein, zwei Tagen wird wohl Vollmond sein obwohl er auch jetzt schon riesig erscheint. Ich bin froh um den hellen Trabanten dort oben und sehe mich suchend um.
Dort steht er! Auf einer kleinen Anhöhe ganz in der Nähe sitzt hoch erhobenen Hauptes ein Wolf. Es ist ein großes Tier, ein stattliches Exemplar. Angestrahlt vom Licht des Mondes hebt sich seine Kontur gut von der Dunkelheit des dahinter liegenden Waldes ab. Seine Augen kann ich nicht sehen, dafür ist er zu weit entfernt. Und doch spüre ich, dass er zu uns herüberschaut.
Ein vertrautes Vibrieren geht durch meinen Körper und ich fühle unsere Verbindung. Es ist ein uraltes Band welches die Schamanen, meine Vorfahren, vor Urzeiten mit den Tieren der Erde verband.
Im Lauf der Jahrhunderte geriet diese Art der Kommunikation in Vergessenheit und eine tiefe Kluft trennte die verschiedenen Welten. Das Vertrauen schwand, die Verbindung zum Höheren Selbst ging verloren und das Ego wurde übermächtig. Und doch gab es immer ganz besondere Freundschaften zwischen Mensch und Tier. Verbindungen, die über das normale Maß hinaus gingen, denen echte Tiefe und großes Verständnis zugrunde lag, die den Schmerz besiegten und den Tod überdauerten.
Schon seit längerem besucht mich dieser Wolf. Ich kenne ihn aus meinen Schamanischen Reisen. Er fordert mich auf, die Welt aus seinen Augen zu betrachten, aus der Angst hervorzutreten und den Glauben wieder zuzulassen, zu fühlen, statt nur zu sehen.
Leicht wie eine Feder fliegen mir seine Worte ins Bewusstsein. Er wird wohl nicht mehr lange hier auf der Erde weilen. Seine Seele zieht es nach Hause, zurück ins All-Eins-Sein. So heißt es wohl bald Abschied zu nehmen, mein Freund, und Tränen des Bedauerns fließen meine Wangen herab. Er spürt meine Trauer und pflanzt mir in Gedanken eine kleine Kerze ins Herz. Es ist seine Art mir zu versprechen, dass ein Teil von ihm bei mir bleiben wird. Mir ist klar, dass er nicht wirklich geht und doch werde ich es vermissen, hier mit ihm zu stehen und diese Magie zu spüren.
Elli neben mir ist unruhig geworden und winselt leise. Ich suche nach dem Grund ihrer Aufregung und spähe in die Dunkelheit. Etwas kommt auf uns zu und erst Sekunden später verstehe ich die wahre Botschaft. Er kam dieses Mal nicht allein. Ein weiterer Wolf trabt auf uns zu, ein tapsiges Jungtier mit wedelnder Rute und auffordernden Sprüngen in Ellis Richtung. Es ist sein Kind und er sendet es zu uns als neues Bindeglied zwischen den Welten.
Elli duckt sich auf den Boden und liegt wie versteinert. Der kleine Wolf schleicht sich heran und springt auf sie zu. Er zupft ihr an den Ohren und fängt ihre zuckende Rute, er springt auf ihren Rücken und lässt sich wieder ins Gras kullern.
Abrupt hält er inne und schaut erschrocken zu mir auf. Meine vorsichtige Kontaktaufnahme hat ihn wohl irritiert. Zögernd erhebt er sich und wendet sich mir zu. Mein Herz fliegt ihm entgegen und die Freude ist groß. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl diesem kleinen Wesen so nah zu sein. Plötzlich zuckt ein kurzes Bellen des alten Wolfes durch die Dunkelheit und ruft das Jungtier zurück. Er hat längst bemerkt, dass der neue Tag anbricht. Es zieht ihn in die Sicherheit des Waldes, zu seiner Familie, die er zu beschützen hat.
Die frische Morgenluft füllt meine Lungen und ich genieße die Ruhe. Dieser Ort, die Schönheit dieser Erde, ist wahrhaftig ein Geschenk des Universums. Wieder einmal überkommt mich Staunen und Ergriffenheit. Wie lange schon spürte ich die Sehnsucht in mir und habe sie nicht verstanden? Wie viel Kraft hat es gekostet, all die Rückschläge zu verdauen? Welch tiefe Wunden konnte ich schon heilen? Es war ein langer Weg bis hierher und er führt mich weiter ins Morgen.
Noch immer stehe ich vor Rührung still und schaue über den See. In der Ferne hinter dem Gebirge färbt sich der Himmel schon leicht und verweist auf den ewigen Kreislauf. Bald wird der Sonnenaufgang die Welt in ein rot-goldenes Licht tauchen.
Ich wende mich um und Elli schaut mich erwartungsvoll an. Gemeinsam gehen wir durch die Dämmerung zurück zum Haus. Noch liegt es ganz still doch die Natur um uns herum erwacht schon hörbar. Und während ich mich im Schneidersitz auf der Veranda niederlasse, kuschelt sich Elli an mich und schließt noch einmal genüsslich die Augen. So warten wir beide auf die Begegnungen des neuen Tages.